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nordwestpassage (audition)

Programme Note

Guntram Vespers Text "Nordwestpassage" verwebt Fragmente aus den Annalen der geographischen Entdeckungen kunstvoll mit Teilen der eigenen Geschichte. In einer lyrisch dichten Sprache und mit knappen und zugleich poetischen Bildern wird dabei - den Traum vom wahrhaft freien Leben überprüfend - eine Wirklichkeit aus Ruhmsucht, Machtgier und Gewalt entworfen, die in den Eismeerfahrten und Nordlandzügen übersteigerte Muster unseres Alltags und Visionen beherrschbarer Zukunft deutlich macht. Im Spiegel einer geschichtlichen Situation zeigt sich hier der Archetypus blinder Grenzüberschreitung: ein "immer weiter" jenseits realistischer Möglichkeiten und die fatale Kraft, die Projektionen imaginärer Welten ausüben können. Die Nordwestpassage, "ewiges Eis zwischen Felseninseln, der falsche Weg", und der Nordpol als beinahe beliebiger Punkt in den Eiswüsten finden ihre Entsprechung in der biographischen Situation des Übergangs der eigenen Familie, die in den fünfziger Jahren eine kleine Stadt in Mitteldeutschland verlässt, um jenseits der Grenze, im funkelnden Westberlin, Fuss zu fassen: ebenfalls ein "Grenz-Gang" in eine Vision vom "anderen" Leben, eine als ungewiss zu definierende Zukunft. Eingebettet in ein Netz collagenartiger Einschübe und autonomer musikalischen Stationen entwickelt sich daraus ein musikalisch-literarisches Duo, dessen verschiedenen klangliche Ebenen (live gesprochene Passagen, Klaviersoli, elektronische Zuspiele) die Grenzen zwischen Hörspiel und Konzert, zwischen Fiktion und Biographie immer wieder neu definieren: Momente des Übergangs, der Überprüfung von Vergangenheit und ihrer Weiterentwicklung. In dem ca. 40-minütigen Stück sind Text und Musik dabei gleichermassen miteinander verwoben wie dialektisch gegeneinander positioniert, auch hier einen "Übergang" aus der Gegenwart in die Zukunft entwickelnd: ein Kommentar, der gleichzeitig die eigenen Vergangenheit wie auch deren Weiterentwicklung nachvollzieht.